In eigener Sache

Seit März 2019 kommen sechs Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung in den Genuss einer Vollzeitausbildung von 36 Stunden in der Woche. Bisher haben sie in Werkstätten für behinderte Menschen gearbeitet. Dort stellte das Projektteam der Hochschule das neue Vorhaben vor: Menschen mit Behinderung sollen zu Bildungsfachkräften in eigener Sache qualifiziert werden. Foto: Matthias Sasse
Marleen Lüders und Claus Wowarra (beide stehend) unterrichten die Auszubildenden in einem extra eingerichteten Raum auf dem Stendaler Campus. Die Unterrichtsinhalte richten sich auch nach den persönlichen Interessen der jungen Menschen – von gesetzlichen Grundlagen über Vertragsrecht bis hin zur Geschichte der Bildung. Es geht darum, was ihnen selbst wichtig ist, um sich im Alltag behaupten zu können. Foto: Matthias Sasse
Inklusive Bildung steht auch für einen Schulterschluss zwischen Dr. Wiebke Bretschneider (r.) und Prof. Dr. Matthias Morfeld (l.). Marleen Lüders und Claus Wowarra komplettieren das Team. Foto: Matthias Sasse
Denise Schmidt, Martin Welz und Sven Gräbner (v. l.) sind drei von sechs außergewöhnlichen Auszubildenden an der Hochschule. Zuvor haben sie in Werkstätten für behinderte Menschen gearbeitet. „Mir kam ein Lachen, denn ich habe mich richtig darauf gefreut“, erinnert sich Sven Gräbner an den Moment, als er von der Qualifizierung als Experte in eigener Sache erfahren hat. Foto: Matthias Sasse
Im Haus 3 auf dem Campus Stendal führen sie Menschen mit Sehbehinderung bereits zu den Seminarräumen. Die Vision des Teams ist es, Hilfsmittel wie diese auf dem gesamten Hochschulgelände in Magdeburg und Stendal einzurichten. Foto: Matthias Sasse

Sechs junge Frauen und Männer wollen über die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung aufklaren und gleichzeitig zu mehr Inklusion inspirieren. Sie wissen genau, wovon sie reden, denn sie erzählen aus ihrer eigenen Lebenswelt mit all ihren Herausforderungen. Die Hochschule Magdeburg-Stendal gibt ihnen die passenden Werkzeuge in die Hand.

Text: Bianca Kahl

„Ich will beweisen, dass ein Miteinander möglich ist“, sagt Mario Drogmann bestimmt. „Menschen mit Behinderung können und sollen arbeiten wie andere Leute auch.“ Mario Drogmann ist blind und bekam deshalb gar nicht mit, dass seine Kollegin Denise Schmidt eigentlich vor ihm zum Sprechen angehoben hatte. Man spürt, wie es in ihr kribbelt. Sobald er ausgeredet hat, ergreift sie das Wort: „Ich will endlich raus aus der Werkstatt und auf dem ersten Arbeitsmarkt einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen.“ Dabei gehe es ihr vor allem darum, unabhängig zu sein und selbst für sich entscheiden zu können, auch über ihre Ausgaben. Denn viel zu oft wissen andere Menschen besser, was angeblich gut für sie wäre und bevormunden sie.

Für Inklusion sensibilisieren
Diese Selbstbestimmung ist das zentrale Element im Projekt Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt. Seit März 2019 kommen Mario Drogmann und Denise Schmidt gemeinsam mit vier anderen in den Genuss einer Vollzeitausbildung von 36 Stunden in der Woche. Die sechs jungen Menschen haben sogenannte geistige und körperliche Behinderungen und gelten als nicht voll leistungsfähig. Bisher haben sie in Werkstätten für behinderte Menschen gearbeitet. Dort stellte das Projektteam der Hochschule das neue Vorhaben vor: Menschen mit Behinderung sollen zu Bildungsfachkräften in eigener Sache qualifiziert werden. Aus 33 Werkstätten in Sachsen-Anhalt bewarben sich 29 Menschen.

Ja, wir machen das!
Das Konzept für die Ausbildung und erste Erfahrungen stammen vom Institut für Inklusive Bildung in Kiel. Über eine Umfrage des Landes Sachsen-Anhalt wurde das Stendaler Projektteam aufmerksam: Wer könnte sich vorstellen, dieses Konzept zu übernehmen? „Ja, wir wollen das machen!“, war die prompte Antwort von Prof. Dr. Matthias Morfeld, der heute das Projekt gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Wiebke Bretschneider an der Hochschule Magdeburg-Stendal leitet. Im Grunde fragte er sich, warum er noch nicht selbst auf solch eine Idee gekommen war.

Morfeld war so begeistert, dass er innerhalb kürzester Zeit und ohne bestehende Infrastruktur in der Hinterhand auf dem Bewerberstuhl in Magdeburg saß: In den Fördergesprächen im Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt ging es um viel Geld, um besondere Bedürfnisse und um große Herausforderungen. Und es musste schnell gehen. Die ersten und dringendsten Anträge für notwendige Umbauten auf dem Stendaler Campus reichte er noch handschriftlich ein. Die Hochschulleitung stand hinter ihm, machte alles möglich, was irgendwie möglich zu machen ist. Türtaster und taktile Bodenbeläge in Haus 3 waren dabei noch das Geringste.

Zeit, um umzudenken
Langsam lernen alle Beschäftigten und Studierenden in Stendal, ihr Umfeld mit anderen Augen zu betrachten – kritischer, aber auch freundlicher. Menschenfreundlicher. Denn Bildung und Arbeit sind erklärte Menschenrechte der Vereinten Nationen. „Die buntesten und vielfältigsten Gesellschaften sind die, die am besten funktionieren“, unterstreicht Prof. Dr. Matthias Morfeld. „Bei den ersten Ansätzen von Inklusion in den 1970er-Jahren ging es nicht darum, Nachteile auszugleichen, sondern das Zusammenleben mit mehr Vielfalt zu bereichern.“

Diese rechtlichen und geschichtlichen Grundlagen lernen auch die sechs neuen Auszubildenden an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zudem gehören die Methodik in der Bildungsarbeit und dialogisches Arbeiten auf Augenhöhe zu den Inhalten der Lehre. Die angehenden Bildungsfachkräfte werden zunächst mit den Studierenden der Rehabilitationspsychologie zusammenarbeiten. Sie referieren zum Beispiel in Seminaren oder beteiligen sich an wissenschaftlichen Untersuchungen zu Arbeitsbedingungen für Menschen mit Behinderung.

Große Veränderungen für mehr Teilhabe wagen
Doch dies ist nur der Anfang: „Bald verlässt kein Studierender unsere Hochschule ohne eine Hochdosis Inklusion“, wünscht sich Morfeld. Über die Hochschule hinaus hat er schon Bildungsangebote für Unternehmen und externe Einrichtungen im Blick. Er träumt von Tetra Packs in Brailleschrift und Diversity-Kursen für die Automobilbranche. „Letztlich werden diese Themen überall gebraucht – von der Buchhaltung bis zur Konstruktion für die Raumfahrt“, sagt er und seine Kollegin Wiebke Bretschneider ergänzt: „Am Ende profitieren auch Touristen, Migranten und Senioren davon, wenn eine Gesellschaft nicht nur im Kleingedruckten denkt.“ Auch sie können sich dank der Taste an der Bushaltestelle den aktuellen Fahrplan vorlesen lassen. Mehr Sensibilität für besondere Bedürfnisse schafft die Grundlage für mehr gesellschaftliche Teilhabe und für ein anregendes Miteinander – für alle Menschen.

Mehr Forschungsgeschichten im Forschungsmagazin „treffpunkt forschung“ und im Hochschulmagazin „treffpunkt campus“

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