Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff im Gespräch mit Journalismus-Studenten

Dr. Reiner Haselhoff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, während des Interviews. Foto: Noah Carstensen

Die Journalismus-Studenten Christopher Stöhr und Georg Hölting hatten im Rahmen der Lehrredaktion Online nach der Landtagswahl auf der Wahlfeier der CDU den Wahlsieger Haseloff um ein kurzes Interview gebeten. Er sagte für einen späteren Zeitpunkt zu. Ende März 2022 war es soweit. Wir dokumentieren dieses ausführliche Gespräch an dieser Stelle gern. 

„Wir haben Defizite.“ Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff über die Herausforderungen im beginnenden 21. Jahrhundert

Stöhr: Guten Tag, Herr Dr. Haseloff, vielen Dank, dass Sie sich heute Zeit für uns nehmen. Sie selbst haben Physik studiert und sogar promoviert. Wie hat das Studium Ihr Leben geprägt? Wie war das für Sie?

Haseloff: Die Studienwahl ist natürlich eine der entscheidendsten im Leben. Sie ist aber immer auch in gewisser Weise davon abhängig, in welchem Gesamtrahmen und in welchem System man groß wird. Ich bin in der DDR groß geworden. Das war ein atheistischer Staat, der diktatorisch war. Ich bin Christ und in einer christlichen Familie groß geworden. Da war schon von Anfang an klar, dass wenn man ohne Jugendweihe zum Gymnasium will, man ein sehr, sehr gutes Zeugnis braucht. Und es war auch klar, dass nicht jeder Beruf in Frage kommt, wenn man seine eigene Weltanschauung, seinen eigenen Glauben behalten will. Mit dieser inneren Prägung war es dann so, dass, wenn man studiert, es nur etwas Naturwissenschaftlich-Technisches oder etwas Medizinisches sein kann. Das waren die einzigen ideologiefreien Räume, die damals im Gesamtangebot waren. Alles andere war in irgendeiner Weise ideologisch vom System des Kommunismus her geformt. Dass ich Physik und Naturwissenschaften sehr gerne mochte und darin auch gut war, war natürlich dann ein Glücksumstand.

Stöhr:  Würden Sie auch heutzutage Physik studieren?

Haseloff: Also die Affinität wäre sicherlich geblieben. Erst mal, weil man ja weiß, wo man in der Schule gut war und wo man die Interessen hatte. Als gläubiger Mensch ist man auch immer in der Auseinandersetzung zwischen den Grundfragen des Lebens, im Bereich der Philosophie und der Theologie, aber eben auch in der Naturwissenschaft unterwegs. Das heißt die Fragen: Wo kommt alles her? Wo geht es hin? Was ist der Hintergrund? Was ist die Programmierung? Was läuft da eigentlich ab in diesem Kosmos? Seit 13,8 Milliarden Jahren, seit dem Urknall? Das sind Sachen, die existenziell sind. Die mich über diese Auseinandersetzung beeinflusst haben. Das würde heute wahrscheinlich genauso ablaufen. Trotzdem würde man in den Katalog der möglichen Studienfächer automatisch Sachen reinnehmen und auch neu bewerten, die man früher klar ausgeschlossen hat. Es war klar, wenn du Lehrer werden wolltest, dass du eine sehr starke Systemnähe brauchtest. Dadurch brach bei mir Lehrer weg. Heute würde man es wieder mit drin haben im Katalog. Aber in den vielen beruflichen Situationen, in denen ich schon gestanden habe – in der ersten Hälfte des Lebens als Physiker und diesem Zusammenhang auch als Umweltforscher und Atmosphären-Physiker und im zweiten Leben Kommunalpolitik, Bundesverwaltung, Arbeitsamt, Staatssekretär, Minister, Ministerpräsident – überall habe ich mit diesem Grundkanon des Vermittelten eine gewisse Denkstruktur und Systematik gefunden. Da wird ja immer gerne Angela Merkel als Beispiel mit gleichem Berufsabschluss angeführt. Wir sind auch im selben Jahr geboren. Da ist schon was dran, dass man anders an eine Aufgabe herangeht als zum Beispiel ein Jurist oder ein Politikwissenschaftler.

Hölting: Würden Sie heute vielleicht Theologie studieren?


Haseloff: Ich habe sogar einen kleinen theologischen Abschluss. Ich haben einen theologischen Studienfernkurs gemacht, noch zu DDR-Zeiten. Das war aus den alten Bundesländern heraus möglich über die Verbindung der Bistümer, sodass ich also auch einen theologischen Abschluss habe.

Stöhr: Sie haben ja schon erwähnt, dass es einige Unterschiede gab beim Studieren im Westen im Vergleich zur DDR. Was ist heute anders als früher in der DDR?


Haseloff: Das fing schon damit an, dass es natürlich eine grundsätzliche ideologische Durchdringung in allen Lebensphasen gab. Schon im Kindergarten ist die Beziehung zum Militär, zur Waffe, zum Panzer Bestandteil des pädagogischen Konzeptes gewesen. Das ging über die Zeit, wo die jungen Leute als Pioniere unterwegs waren oder dann hin zur Jugendweihe, die ich als gläubiger Katholik nicht mitgemacht habe. Mit einem evangelischen Freund waren wir da die Einzigen in der Klasse. Dann ist da eine andere fachlich Prägung. Heute zum Beispiel machen rund 35 bis 40 Prozent eines Jahrgangs Abitur. Zu unserer Zeit waren es 10 Prozent. Das heißt, du konntest auch in kürzerer Zeit wesentlich härteren Stoff durchziehen. Anders als es heute der Fall ist, wenn du 40 Prozent durch ein Abitur bringen willst, da musst du einfach auch bestimmte Sachen mal weicher spülen. Damit will ich das Abitur von heute nicht schlecht machen. Nur dass es die Möglichkeit gibt wesentliche Fächer abzuwählen, halte ich nach wie vor für einen Mangel unseres Bildungssystems.

Hölting: Das heißt es machen heute zu viele das Abitur?

Haseloff: Also wir haben zum Beispiel ukrainische Flüchtlinge hier, die dank einer guten Digitalisierung des Bildungswesens ihre Lernstoff-Vermittlung über das Internet, von Kiew oder von Odessa aus machen können. Und die legen ausdrücklich Wert darauf, dass der Schulkanon von uns nicht angewendet wird, weil man auf das niedrige Niveau unserer MINT-Ausbildung nicht absinken möchte – so die Aussage der ukrainischen Botschaft. Das ist mal eine Außensicht auf das, was wir – mit einem oftmals nicht ganz begründbaren Selbstbewusstsein – behaupten, gut zu machen. Wir haben Defizite. Und dass man Naturwissenschaften abwählen kann, halte ich vor dem Hintergrund der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für fatal und für falsch. Das werde ich aber leider im Rahmen meiner Kompetenzen und meiner Möglichkeiten nicht korrigieren können. Das ist einfach eingeschliffen. Das kann nur eine Generation für sich korrigieren, die merkt, dass sie einfach nicht mehr wettbewerbsfähig ist.

Hölting: Das heißt, es machen nicht unbedingt zu viele Abitur, sondern die Schwerpunkte werden falsch gelegt?

Haseloff: Dass es heute einen höheren Akademisierungsgrad geben muss, ist klar. Die 10 Prozent waren zu wenig. Ob es 40 Prozent eines Jahrgangs sein müssen? Bei vielen tausenden unbesetzten dualen Ausbildungsstellen, die wir nicht gefüllt kriegen ohne qualifizierte Zuwanderung in den nächsten Jahren. Das ist die andere Seite der Medaille. Wir brauchen einen hohen Akademisierungsgrad. Aber das, was wir innerhalb der Studienausrichtung im Sinne von Belegung der einzelnen Richtungen haben, entspricht nicht unseren wirtschaftlichen Notwendigkeiten.

Stöhr: Was müsste man machen, um das zu ändern?


Haseloff: Indem man generell wieder ein positives Image von Technik und Naturwissenschaften vermittelt. Auch die Möglichkeiten der Problemlösungen betont, die damit einhergehen. Ich bringe mal ein Beispiel: Wir hatten ganz am Anfang vor 20 Jahren, als ich noch Staatssekretär und später Minister war, eine Gentechnik-Offensive. Da wurde gesagt, wir müssen in Gentechnik! Da ist vieles möglich, um die Welternährung zu sichern, aber auch um die Medizin und Pharmazie weiterzubringen. Wir haben damals viel Geld reingesteckt. Und dann ist das durch einen Imageverlust dieser Branche gescheitert. Durch Ängste, teilweise Irrationalität, die sich jetzt auch in der Aversion in Richtung Corona-Impfung widerspiegelt. Und der Witz der Geschichte ist, dass wir gerade jetzt die Pandemie nur deswegen überwunden haben, weil wir Gentechnik haben. Das ist nichts anderes als das, was wir in verschiedenen anderen Bereichen damals auf den Weg bringen wollten. Das ist mehr oder weniger an der mentalen Programmierung in unserer Gesellschaft, durch die Medien und durch politische Strömungen, die sich durchgesetzt haben, gescheitert. Wenn das die Regel wird, dann werden einfach andere Länder diese Schwerpunkte unserer Volkswirtschaft übernehmen. Man muss sich bloß angucken was passiert ist, als die Pandemie die Produktions- und Lieferketten unterbrochen hat. Was alles plötzlich nicht da war! Da können wir von Glück reden, dass es noch irgendwo kleine Inseln gab, die in Bereichen der Gentechnik noch gut waren, sodass wir dann diejenigen waren, die einen Impfstoff auf den Markt bringen konnten – lebensrettend für uns. Das ist eine Sache, wo wir einfach umdenken müssen. Gesellschaften und Landschaften sind immer durch den Menschen geprägt. Wenn wir nicht alle gegen bestimmte Krankheiten geimpft wären, dann wäre ein Großteil unserer Bevölkerung gar nicht da. All das muss mal wieder ganz objektiv aufgearbeitet werden, um zu zeigen, dass wir, wenn wir so leben wollen wie wir das jetzt tun, einfach Aufwand betreiben müssen. Und das ist ohne Technik und Technologie, Entwicklung und Industrie nicht möglich.

Hölting: Das ist ein sehr interessantes Bild. Sind wir also durch Krisen wie die Pandemie oder jetzt die Ukraine-Krise gezwungen, doch wieder über Gentechnik nachzudenken? Kommt mit der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl vielleicht auch der Atomkraft eine neue Bedeutung zu?

Haseloff: Wir merken jetzt plötzlich, dass viele landwirtschaftliche Produkte aus dem Ausland kommen. Wir merken also, dass wir uns in bestimmten Bereichen selbst nicht mehr ernähren können. Wir zahlen Geld dafür, dass Äcker nicht bewirtschaftet werden und importieren stattdessen Sonnenblumenöl aus der Ukraine. Die Frage ist, inwieweit Nationen oder die Europäische Union dafür sorgen müssen, dass die wichtigen existenziellen Dinge strategisch im Zugriff sind. Das heißt, dass man sich selbst ernähren kann und dass man eine Energie-Autarkie hat, damit man nicht auf fremde Energie angewiesen ist. Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Energie-Importland. Das hat nicht nur mit russischem Gas und Öl zu tun: 70 Prozent der gesamten Energie wird über die verschiedensten Energieträger importiert. Und dadurch, dass Steinkohle rausgefallen ist, jetzt die Braunkohle langsam rausfällt, Atom wird zurückgebaut, wird das noch ansteigen. Das ist durch Windräder und Solarpanels auf den Dächern allein nicht kompensierbar. Das heißt: Wir müssen die Grundsatzfrage stellen. Man sieht es in Belgien, das den Atomausstieg jetzt um zehn Jahre nach hinten verschoben hat. Wenn wir 83 Millionen Menschen auf dem Lebensstandard ernähren und leben lassen wollen, wie wir ihn aktuell haben, müssen wir entweder ganz andere strategische Partnerschaften zur Energieerzeugung außerhalb Deutschlands eingehen oder müssen einfach unseren Eigenanteil erhöhen. Und die erste Frage, die man sich stellen muss, ist: Schaffen wir das in der Kürze der Zeit? Oder ist da eine große Differenz zwischen dem, was wünschenswert wäre und dem, was politisch machbar ist?  Auch ich habe früher als Physiker mal Klimaforschung betrieben. Ich habe in einem Institut für Umweltschutz gearbeitet. Ich weiß, was uns mit der Klimaveränderung bevorsteht, wenn wir nicht reagieren. Ich weiß aber auch, dass wir Menschen in einem realen Kosmos leben und nicht einen Zauberstab haben, wo wir uns eine neue Realität sozusagen herzaubern können. Und das merkt jetzt auch die Bundesregierung, dass das Leben auf der einen Seite etwas Wünschenswertes zutage fördert, auf der anderen Seite eben durch physikalische Gesetze und Fakten im Bereich der Ressourcenverteilung getriggert und bestimmt wird. Wir merken, dass wir Elektrofahrzeuge jetzt bei Tesla in Brandenburg produzieren, sehen aber, dass die meisten Elemente, die wir dafür benötigen, nicht aus Deutschland stammen.  Bei all diesen umweltfreundlichen Technologien sind wir abhängig von anderen Staaten. Staaten, die auch nicht zu den stabilsten Regionen dieser Welt gehören. Damit machen wir uns auch politisch erpressbar. Worauf setzen wir also? Windräder haben wir. Wasserstoff ist zwar vom Wirkungsgrad nicht besonders gut physikalisch gesehen, aber ist eine autarke Möglichkeit, über die man reden muss.

Hölting: Und wie sieht es mit Atomkraft aus?

Haseloff:
Atomkraft ist in Deutschland in der jetzigen Generation nicht mehr revitalisierbar. Trotzdem war klar, dass wir dann Alternativen brauchen. Die Alternative war Gas. In dem Moment, wo ein Atomkraftwerk oder ein Kohlekraftwerk rausgeht, ist ein Gaskraftwerk dagegen zu stellen. Gas ist jetzt wieder in der harten Diskussion. Wir sind völlig abhängig von Russland mit 55 Prozent Import beim Erdgas. Und das würde ja noch steigen mit jedem Meiler, den wir abschalten. Das muss man einfach vor Augen haben. Ohne grundlastfähige Eigenproduktion werden wir nicht klarkommen. Wir können nicht Atomstrom überall entstehen lassen und dann importieren, nur damit wir eine weiße Weste haben. Das ist unehrlich. Sondern wir müssen gucken, inwieweit auch diese Technologie zukünftig in einem anderen Modus und in einer anderen Technologie eine Grundlage darstellen kann. Das wird in diesem Jahrhundert – da bin ich mir ziemlich sicher – noch passieren. Meine Enkel sehen das inzwischen schon wesentlich aufgeschlossener als wir, die wir noch Fukushima oder Tschernobyl geschädigt sind. Ganz Europa setzt auf diese – in Brüssel als umweltfreundlich eingestufte – Technologie. Inwieweit Deutschland immer einen Sonderweg allein durchhält, auch in einem Staatenverbund wie der Europäischen Union, das wird sich zeigen. Höchstens, indem wir importieren. Und dann ist es aber, wie gesagt, die gleiche Technologie, die wir gerade abstellen.


Stöhr: Würden Sie sagen, dass die jetzige Generation in Zukunft genauso komfortabel leben kann, wie Ihre Generation? Oder meinen Sie, dass wir uns einschränken müssen?


Haseloff: Das hängt von vielen Dingen ab, wie sich diese globale Auseinandersetzung entwickelt. Es gibt rund 190 Staaten auf dieser Welt. Und es gibt 30 Demokratien mit mehr oder weniger belastbaren Kriterien, die wir als lupenreine Demokratie bezeichnen können. Das heißt, wir sind eine Minderheit auf diesem Globus. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, das sag ich auch als Ostdeutscher, dass man so lebt, wie wir jetzt leben: frei, demokratisch, mit Zukunft und Gestaltungsmöglichkeiten. Kaum ein anderes Land lebt so und keine Generation vor uns in den letzten 1,5 Millionen Jahren der Menschheitsgeschichte hat so gelebt wie wir heute. Und dass das nicht selbstverständlich ist, sehen wir gerade aktuell. Wir werden die harten Konsequenzen aus dem Ukraine Krieg noch viele Jahre verspüren. Und damit gibt es auch eine Umprogrammierung der Ressourcenverteilung.

Stöhr: Sie haben die Flüchtlinge aus der Ukraine angesprochen. Viele kommen jetzt auch nach Deutschland und nach Sachsen-Anhalt. Sie selbst waren selbst zehn Jahre Leiter des Arbeitsamtes Wittenberg. Wie schwierig ist es, diese Leute zu integrieren? Gibt es große Unterschiede zur Flüchtlingswelle von 2015.
 
Haseloff: Ja, es gibt mehrere große Unterschiede. Erstmal ist der Krieg auch durch die Medien so nah bei uns, dass die Betroffenheit wesentlich stärker ist als in anderen weit entfernteren Konflikten. Generell ist die derzeitige Situation eine andere als damals. Damals kamen vor allem junge Männer. Und dadurch, dass diese erstmal einen Asylbewerber-Status hatten und geprüft werden musste, ob sie bleiben dürfen oder zurückgeführt werden müssen, war es ein langwieriger Weg bis zu den Arbeitserlaubnissen. Jetzt hat die Europäische Union ein Massenzustrom-Kriterium heraus formuliert, dass man ohne Prüfung jeden, der sich retten will, vertrieben wurde und ein Flüchtling ist, hier aufnehmen kann. Und die, die kommen sind zu 90 Prozent Frauen und Kinder. Das erzeugt auch eine andere Atmosphäre in der Gesellschaft, weil es ein noch stärkeres Maß an Hilfsnotwendigkeit auch im individuellen Bereich gibt. Jetzt ist die Registrierung vor Ort sofort möglich und damit wird auch die Arbeitserlaubnis erteilt. Viele von denen, die sicher angekommen sind und eine Unterkunft haben, versuchen so schnell wie möglich Arbeit zu finden und kriegen diese dann auch. Dadurch, dass die Qualifikationen mit unseren Standards vergleichbar sind und auch die Berufserfahrung zu großen Teilen identisch ist in Europa, ist unsere Kultur diesbezüglich sehr schnell aufnahmefähig. Der Bedarf an Arbeitskräften ist ja da. Wir haben überall Fachkräftemangel. Es gibt bestimmte Berufe, wo sowieso schon immer auch Ukrainer gearbeitet haben. Gerade im Lebensmittel-, Verarbeitungs- und Schlachtbereich. Aber es ist so, dass neben der Herausforderung der Unterbringung, die Integrationsperspektive sehr sehr gut ist.
 
Hölting: Was tut Sachsen-Anhalt, um die Menschen hier willkommen zu heißen?

Haseloff: Das Verteilschema der Bundesregierung funktioniert nach dem Königsteiner Schlüssel, also nach dem Bevölkerungsanteil kombiniert mit der wirtschaftlichen Stärke. Das heißt, wir haben zum jetzigen Zeitpunkt doppelt so viele aufgenommen, wie wir eigentlich nach unserer Quote hätten aufnehmen müssen. Das ist eine große Leistung. Das heißt, wir haben schon viele hier, wobei ein großer Teil individuell und privat untergebracht wird. Es helfen also unwahrscheinlich viele Menschen und Familien, die den Geflüchteten Raum geben, vom eigenen Wohnbereich bis hin zu Datschen. Wir haben gestern mit den Verantwortlichen von Krankenhäusern und Arztpraxen zusammengesessen. Man kann ja nur ein Kind in die Kita bringen, wenn es gegen Masern geimpft ist, das ist bundesdeutsches Recht. Also müssen jetzt alle geimpft werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen auch schnell durch die Schuluntersuchungen, um Krankheiten, zu erfassen und dann auch entsprechend zu behandeln. Ich bin optimistisch, dass das auch sehr sehr schnell gehen kann.
 
Stöhr: Was wohl auch optimistisch zu sehen ist, dass Intel sich jetzt hier in Magdeburg und Umland ansiedelt. Was hat es gebraucht, damit Intel überzeugt werden konnte, sich gerade hier niederzulassen?
 
Haseloff: Na gut, es waren – glaube ich – 60 bis 70 Standorte, die weltweit geprüft wurden. Es ist sicherlich eine strategische Entscheidung, dass Intel als Unternehmen Europa ganz stark neu in den Fokus nimmt, weil es in Asien auch die bekannten Unsicherheiten gibt mit China und Taiwan. Die Entscheidung für den europäischen Standort ist auch positiv begleitet worden durch ein Programm, das darauf abzielt, bestimmte Leittechnologien zu stärken und zurückzuholen: Das IPCEI-Konzept, welches auch besondere Fördermittel mit sich bringt. Dazu waren wir mit Ursula von der Leyen von der Kommission in Brüssel von Anfang an im Gespräch und haben die Stadt Magdeburg und das Land ins Rennen geworfen. Ich hatte im letzten August ein persönliches Treffen mit Pat Gelsinger. Wir haben 30 Jahre Erfahrung mit Ansiedlungen, die gelungen sind, aber wir wissen auch, wo wir gescheitert sind und an welchen harten Fakten es gelegen hat. Wir haben genau an diesen Dingen gearbeitet, dass wir die harten Fakten beibringen können, denn es ist nicht so, dass man das einfach herbeiwünschen kann. Es geht knallhart nach Checklisten, Kostenstrukturen, Fachkräften, Bereitstellung der Ressourcen, der Nachhaltigkeit, usw. Das heißt also auch grüner Strom, CO²-frei! Für das 21. Jahrhundert ein Muss. Da waren wir überall gut. Wir haben ja gemerkt, dass wir dann innerhalb des bewerteten Tableaus immer weiter in die engere Wahl kamen. Und zum Schluss haben wir uns eben durchgesetzt. Da bin ich glücklich. Jetzt fängt die Arbeit erst an. Es ist eine neue Etappe in der Geschichte Sachsen-Anhalts. Es ist die größte einzelne Investition in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg, die an einem Standort stattfindet. Das ist schon eine riesige Herausforderung und ich habe sie mit dem Oberbürgermeister gemeinsam zur Chefsache erklärt. Die entscheidenden Verhandlungen haben hier in den Räumen der Staatskanzlei und oben im Festsaal stattgefunden, um klarzumachen: Das ist ein Landes-Projekt. Und ja, es hat geklappt. Jetzt müssen wir die Verantwortung wahrnehmen und es richtig machen. Wir dürfen nie vergessen, dass es eine einzigartige, nie wiederkommende Chance für ein Bundesland ist.
 
Hölting: Wie lange liefen die Verhandlungen? 

Haseloff: Das war eigentlich für so eine riesige Investition ein relativ schneller und überschaubar kleiner Zeitraum. Ein Jahr kann man rund sagen seit erster Überlegung, einen Standort zu suchen und Europa in den Fokus zu nehmen. Ich habe mich damals bei der Kanzlerin und dem damaligen Wirtschaftsminister Peter Altmaier persönlich ins Zeug gelegt. Am Ende ist es uns durch das gemeinsame Agieren Deutschlands, Sachsen-Anhalts und Magdeburgs gelungen, sich innerhalb der EU unter 27 Staaten durchzusetzen. Auch der Teamgeist der Bundesregierung, der trotz des Regierungswechsels nahtlos fortgesetzt wurde, bis hin zum Ostbeauftragten der Bundesregierung, hat dazu geführt, dass wir unser Ziel erreicht haben.
 
Stöhr: Was erhoffen Sie sich langfristig davon? Was für Sickereffekte kommen nach Magdeburg, bzw. Sachsen-Anhalt?
 
Haseloff: Es sind ja nicht nur die geschaffenen Arbeitsplätze. Die riesigen Dimensionen der positiven Auswirkungen kann man sich eigentlich noch gar nicht vorstellen. Es ist die strategische Branche, die die Zukunft der nächsten Jahrhunderte bestimmen wird. Diese Industrie als Basistechnologie ist das Kernstück der digitalisierten Welt. Das ist die materielle Basis für all das, was Softwareentwickler zwar theoretisch entwickeln können, was aber irgendwo real-physikalisch stattfinden muss. Die Technologie, die hier entwickelt wird, wird auch notwendig sein, um wieder zur Klimastabilität zu kommen. Und das ist ein ganz langer Weg, den wir da gehen. Diese Branche führt außerdem eine Tradition in Magdeburg fort, die wir durch die früher noch rein technische Otto-von-Guericke-Universität haben. Wir hatten eine große MINT-Affinität im Osten Deutschlands. Als Physiker, der selbst mit Halbleiterlasern, Transistoren und Halbleiterplatten gearbeitet hat, bin ich froh, dass hier wieder Chips hergestellt werden. Das heißt, wir haben jetzt eine eigene Marke auf diesem Globus. Wir finden jetzt auf jeder Landkarte einen Platz. Magdeburg selbst wird dann ein Markenzeichen sein. Und es wird für die Menschen, die auch das mitgestalten können und umsetzen können, eine völlig neue Lebensphase. Nach vielen Umbrüchen wird das die Zukunft bedeuten. Das ist eine Sache, die wir jetzt auch gut umsetzen müssen.
 
Hölting: Jetzt haben Sie mit dieser Investition ja letzte Woche auch auf einen besseren ICE Anschluss in Magdeburg gepocht. Gab es da schon Reaktionen?
 
Haseloff: Es ist klar, dass wir hier viele tausende Menschen zusätzlich haben werden. Und so ein ICE-Anschluss heißt eben, dass wir ein Vorort von Berlin sind, das wiederum die Hauptstadt der größten europäischen, also EU-bezogenen Volkswirtschaft darstellt. Da muss logischerweise auch so etwas funktionieren. Ich setze da auf einen Wandel bei der Deutschen Bahn.
 
Stöhr: Die Statistik zeigt zumindest jetzt noch, dass viele Studenten dem Land Sachsen-Anhalt nach dem Abschluss den Rücken kehren. Genauer gesagt liegt Sachsen-Anhalt auf dem letzten Platz der Statistik. Das wird sich ja sicherlich durch Intel langfristig ändern. Wir würden Sie dennoch bitten, in 30 Sekunden ein Plädoyer für Sachsen-Anhalt als Studienstandort vorzutragen.
 
Haseloff: Der hohe Anteil von Studierenden bei uns im Land aus anderen Bundesländern ist ein Zeichen dafür, was für ein Top-Standort Sachsen-Anhalt ist. Wie gut die Studienbedingungen sind. Wie das Professoren-Studenten-Verhältnis aussieht. Wie die Kostenstruktur für die Lebenshaltung eines Studenten aussieht und auch wie die Qualität unserer Ausbildung aussieht. Und dass viele von denen, die von außerhalb kamen, bisher weggezogen sind zeigt, dass mit dieser Ausbildung man überall einen guten Job finden kann. Der große Abzug wird sich ändern, auch durch die Investitionen, die es in dieser Dimension noch nie gegeben hat in Deutschland. Es ist ein Halte- und Bindungs-Faktor zu erwarten, der diese Statistik korrigieren wird. Es werden von woanders weiterhin viele Studenten herkommen und sie werden hierbleiben, weil sie dann auch hierbleiben können und hier eingestellt werden. Das ist die Zukunft für Sachsen-Anhalt, gerade was den akademischen Bereich anbelangt und den Bereich, der die gut Qualifizierten in den Blick nimmt. Dass wir dafür jetzt den Grundstein legen konnten, darüber bin ich sehr froh und lade alle herzlich ein, Sachsen-Anhalt völlig neu in den Blick zu nehmen und auch für seine eigene Lebensplanung mit vorzusehen.
 
Stöhr: Herr Dr. Haseloff, vielen Dank für das Interview.





Kontakt

Pressesprecher Norbert Doktor

Pressesprecher
Norbert Doktor

Tel.: (0391) 886 41 44
Fax: (0391) 886 41 45
E-Mail: pressestelle@h2.de

Besucheradresse: Haus 4, Raum 1.03

Kontakt und Anfahrt

Hintergrund Bild