5 Frage an: Anne Lequy

Mit Blick auf die weltweite Epidemie, die Klimakrise und die verschiedensten Umweltkatastrophen allein der letzten Zeit scheinen wir in einer krisenbesetzten Zeit zu leben. Der Umgang mit großen Ausnahmesituationen wie diesen oder kleinen persönlichen Veränderungen ist ganz individuell. Im Interview mit der Rektorin Anne Lequy erhalten wir einen persönlichen Eindruck davon, wie die gebürtige Französin mit Veränderungen und Krisen im privaten wie auch beruflichen Leben umgeht.

Interviewt und redaktionell gekürzt von Carolin Maier

 

Max Frisch sagte einst: „Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen." Was war eine Ihrer großen produktiven Krise?

Man kann das Zitat von Max Frisch ja übersetzen in „In jeder Krise steckt eine Chance, wenn man sich nicht von Ängsten überwältigen lässt.“ Ich verstehe Krise als Veränderung. Ohne Veränderung kein Leben. Denn Leben zeichnet sich dadurch aus, dass man wächst und sich verändert, dass man verliert und gewinnt. Manche Veränderungen kommen früher, schneller und intensiver als man sich wünscht, andere passieren im Subtilen und werden erst wahrgenommen, wenn sie wirklich akut werden. Mit Blick auf beruflich- biografische Krisen denke ich an die Zeit meiner Doktorarbeit, das waren sehr intensive fünf Jahre. Ich war an der Université Metz und Universität Leipzig immatrikuliert und habe Ende der 90er-Jahre ein Semester in Minneapolis, Minnesota verbracht. Zu dieser Zeit war meine Doktorarbeit schon sehr vorangeschritten: Ich wusste, wo ich hinwill, hatte meine Hypothese formuliert, die Gliederung und die Textanalyse fertiggestellt. An der University of Minnesota hatte ich die Möglichkeit, Vorlesungen und Seminare als Gasthörerin zu besuchen. Dabei ging es vor allem um Gender Studies. Ich entdeckte eine neue Sichtweise, die Intersektionalität: Wie Gender, Age, Class oder Race unseren Blick prägen. Das, was ich dort hörte und las, hat mich erschüttert. Denn das Thema war bis dato noch nicht in voller Breite in Deutschland angekommen. Aber ich wusste, dass es kommen würde. Ich wusste, dass ich diese Sichtweise in meiner Doktorarbeit berücksichtigen musste. Meine bisherigen Grundsätze gerieten ins Wanken. Ich hatte eine Schaffenskrise, und das kurz vor Schluss. Am Ende habe ich das produktiv gelöst, indem ich genau diesen Krisenprozess in meiner Arbeit thematisiert habe. So gesehen war das Infragestellen von Pseudowahrheiten die größte produktive Krise in meinem Schaffen. Aber das ist eben das Schöne: In jeder Krise findet man plötzlich ungeahnte Kräfte.

Fremde Umgebung, neue Menschen, andere Kultur. Auch beruflich gab es in Ihrer Vergangenheit immer wieder große Veränderungen. Wie gehen Sie mit Veränderungen um?

Immer entspannter, immer gelassener. Denn die Veränderungen, die in meinem Leben bisher stattgefunden haben, waren auch immer Gelegenheiten. Ich suche nicht aktiv nach Veränderungen. Ich ergreife eher Gelegenheiten, wenn sie sich ergeben. Da steckte nie ein Plan dahinter. Ich bin über eine binationale Betreuung, doctorat en cotutelle, nach Deutschland gekommen. Dann habe ich verschiedene Stationen gehabt, die alle irgendwie ihre Vorteile hatten und mich zur nächsten brachten. 2006 kam ich an die Hochschule und wurde gleich zur Studiendekanin katapultiert, es folgte 2010 das Amt der Prorektorin. Ich wusste nicht, worauf ich mich da genau einlasse. Es war nie so, dass ich das Jahre vorher geplant hatte, auch nicht, Rektorin zu sein. So etwas kann man nicht berechnen. Da sind so viele Kräfte am Werk. Jetzt kommt der nächste Wechsel für mich, keine dritte Amtszeit. Ich werde nicht noch einmal als Rektorin antreten, sondern ein neues berufliches Kapitel in meinem Leben beginnen. Frankreich 25 Jahre, Deutschland 25 Jahre und jetzt kommen die nächsten 25 Jahre, in einem internationaleren Kontext. Lassen wir uns überraschen, wo das nächste Kapitel geschrieben wird. Eines ist sicher: Ich bin jetzt noch bis Ende März 2022 im Amt. Ich freue mich auf das nächste Semester mit dem tollen Team, das im Rektorat über die Jahre zusammengewachsen ist. Ich halte der Hochschule bis zum Ende meines Mandats die Treue, schließlich hat sie mir auch immer die Treue ausgesprochen.

Wie treffen Sie Entscheidungen – hören Sie eher auf Ihr Bauchgefühl oder Ihren Kopf?

Ach, da macht es die Mischung. Ich denke aber, es überwiegt der Bauch. Veränderungen gelingen an der Hochschule nur, wenn sie strukturiert ablaufen. Die Hochschule ist eine lernende Organisation, die aus mehreren heterogenen Welten besteht. Ich kann hier nicht am Schreibtisch sitzen, die Veränderung aufschreiben und „los“ sagen. Meistens gibt es eine grobe Idee, die sich im Austausch mit anderen verfeinert. Das heißt in erster Linie in der Hochschulleitung mit den Prorektor:innen und der Kanzlerin. Dann geht es in die Dekanerunde, Kommissionen und AGs, in Vorbereitung auf den akademischen Senat und auch inoffiziell auf der bilateralen Schiene mit Vertrauenspersonen innerhalb und außerhalb der Hochschule. Wenn es gut werden soll, muss das so sein. In der Familie muss ich natürlich weniger Gremien überzeugen (lacht). Obwohl es den Familienrat gibt. Die Kinder haben auch eine Stimme. Ich würde sagen, auch da läuft es in Ansätzen ähnlich wie in dem komplexen System „Hochschule“. Eine Veränderung, die man für sich selbst beschließt und die man allein verwirklicht, die gibt es eigentlich nicht. Das wäre komisch. Man lebt in Netzwerken, man hat Verantwortung für andere.

Was gibt Ihnen Kraft?

Ich glaube, ich habe ein gutes Fundament, ein gutes Wurzelwerk. In Frankreich sagt man Lebenshygiene, hygiène de vie, im Deutschen klingt das etwas seltsam. Ich achte darauf, dass es mir gut geht. Wichtig ist mir ein gutes, gesundes familiäres Umfeld und das Wissen, Rückhalt zu haben. Das gibt mir viel Kraft. Dann brauche ich ausreichend Schlaf, gute Nahrung – das brauche ich wirklich, ich könnte jetzt nicht tagelang fasten, dann ginge es mir ganz schlecht. Ich brauche auch regelmäßig Bewegung – auf dem Rad oder beim Yoga. Und auch positive Freundschaften. Ich habe meine zwei, drei Freundinnen, von denen ich weiß: egal wo ich mich auf dem Erdball befinde, egal wie gut oder schlecht es mir geht, sie sind für mich da. Wenn ich das habe, kann mich gar nichts mehr umhauen. Natürlich bin auch ich manchmal verärgert und werde auch emotional, aber dann innerlich. Und damit belüge ich mich nicht selbst, da ich diese Emotion sehr deutlich wahrnehme. Aber ich muss mein Publikum nicht an dieser innerlichen Verärgerung teilhaben lassen, denn es trägt ja nicht zur Lösung bei. Außerdem blicke ich immer nach vorne, das ist meine Natur. Und ich bin auch ein dankbarer Typ. Also ich bin sehr dankbar für das Glück, das ich habe. Ich glaube, ich bin der Welt etwas schuldig – das ist zu viel Glück für einen, ich muss etwas davon zurückgeben, oder weitergeben. Diese privilegierte Situation wird einem auch dann klar, wenn man andere Welten kennenlernt. Denn Reisen bildet. Ich meine nicht unbedingt ins Ausland reisen, sondern auch innerhalb der Gesellschaft. Wenn ich meinen Horizont eröffne und mich auf Begegnungen mit Menschen einlasse, die nicht so sind wie ich.

Wo sehen Sie sich in 20 Jahren?

Dann ist es 2041, puh. Also ich hoffe, dass ich in 20 Jahren eine neue Fremdsprache richtig gut beherrsche. Welche, hängt davon ab, in welchem Land ich wohnen werde. Und ich hoffe, dass ich dann auf diesen Campus zurückkommen und der Hochschule einen Besuch abstatten kann. Vielleicht ist dann unser blaues h2-Zeichen von hohen Bäumen umgeben, vielleicht von tropischen Palmen (lacht). Überall sind begrünte Fassaden – also praktisch ein Campus, der so grün ist, dass man die Gebäude gar nicht mehr sieht. Vielleicht haben wir dann auch eine ganz neue Infrastruktur in den Laboren mit futuristischen Themen und alle laufen mit einer Google-Brille auf der Nase umher (lacht). Aber in jedem Fall wünsche ich mir, dass ich 2041 nochmal zu Besuch hier bin.

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