Eine Gesellschaft in der Krise

Matthias Quent, Professor für Soziologie für die Soziale Arbeit, beobachtete innerhalb seines Schwerpunktes der Rechtsextremismusforschung, welchen Einfluss die Corona-Krise auf die Mobilisierung von rechts außen hat.
Demonstrationen und Protestmärsche sind ein gängiges Mittel, um auf Missstände hinzuweisen und seine Meinung kundzutun. In den vergangenen Monaten zog es die Menschen besonders häufig auf die Straßen, um gegen die Covid-19-

Aus treffpunkt campus Nr. 105, 10/2021

Die Covid-19-Pandemie hat unser Leben seit Monaten fest im Griff. Unser gewohnter Alltag veränderte sich schlagartig. Tiefgreifende Ereignisse wie diese können Einstellungen von Menschen verändern. Inwiefern aber beeinflussen sie eine Gesellschaft? Wir haben den Soziologen Prof. Dr. Matthias Quent dazu befragt.

Text: Carolin Maier

Krisen – Wir sind mittendrin und selbst davon betroffen oder stille Zuschauer: innen. Sie kommen, werden überwunden oder bleiben auf unbestimmte Zeit. Während in der Psychologie die Krise einen Ausnahmezustand beschreibt, der zeitlich auf wenige Woche begrenzt ist, versteht die Soziologie eine Krise als „Zuspitzung, Steigerung oder auch Radikalisierung“, die einen ungewissen Ausgang hat und mitunter zeitlich entgrenzt ist. Innerhalb der Soziologie sind Krisen ein zentrales Thema. Die Disziplin versteht sich im Kern selbst als Krisenwissenschaft, erläutert Matthias Quent, Professor am Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien der Hochschule Magdeburg- Stendal.

Aktuell beschäftigt uns alle die Corona- Krise. Doch sie ist bei weitem nicht die einzige Krise, die es hierzulande zu bewältigen gilt. „Wenn wir von der westlichen Welt und Deutschland ausgehen, ist die Gesamtgesellschaft in den vergangenen 20 Jahre im Grunde krisengeschüttelt“, erläutert Quent. Die Finanzkrise im Jahr 2007, die damit einhergehende Griechenland- und Eurokrise und die damit verbundene Repräsentationskrise, „die sich im Erstarken von damals noch rechtspopulistischen, heute eher rechtsradikalen Parteien wie der AfD in Deutschland gezeigt hat“. Es folgte die sogenannte „Flüchtlingskrise“, wobei der Krisenbegriff in diesem Kontext hoch umstritten ist. Es sei nicht klar, was damit gemeint ist: Es habe eine Verwaltungskrise, Behördenkrisen und auch eine Rassismuskrise gegeben, möglicherweise auch eine Humanitäts- und Solidaritätskrise und natürlich auch epochale Lebenskrisen für die jeweils Betroffenen der Fluchtbewegungen, erläutert der Soziologe.

Des einen Krise ist des anderen Normalität

Während die Finanzkrise oder auch die Migrationskrise den Alltag der meisten Deutschen nicht grundlegend beeinflusste, wirkt sich die Corona-Pandemie auf das Leben aller Menschen aus. Maskenpflicht, Ausgangssperren und Lockdown galten für alle und betrafen uns direkt, weshalb die aktuelle pandemische Situation für Quent historisch außergewöhnlich ist: „Wir sind alle von dem Virus infizierbar und dadurch in unserer Gesundheit, sogar in unserem Leben bedroht. Das ist ein Unterschied zu vorherigen Krisen, die für den Lebensalltag der meisten einen abstrakteren Charakter hatten“. Die direkte Betroffenheit der Menschen sei in der Theorie zwar unterschiedslos, doch praktisch sehe man schnell, dass bestimmte Menschengruppen durch soziale Ungleichheit und strukturellen Rassismus stärker von den Auswirkungen betroffen sind als andere. Während die einen geschützt im Homeoffice arbeiten konnten, hatten andere keine Wahl, und im eigenen Haus mit Garten ist ein Lockdown besser durchzuhalten als in einer kleinen Stadt- oder Asylwohnung.

Wenn alles Gewohnte wegbricht

Durch Krisen verändern sich unsere Gewohnheiten, weil sich unser Alltag ändert. In Situationen, in denen alles aus den Fugen zu geraten scheint oder tatsächlich gerät, beginnen wir Fragen zu stellen. Diese Fragen können produktiv sein und Gewohnheiten infrage stellen, erklärt Quent. Denn immer dann, wenn Menschen selbst betroffen sind, entsteht politisches Interesse, aus dem sich soziale Bewegungen bilden können. Mit Protesten reagiert eine Gesellschaft also auf Krisen und weist auf existierende Missstände hin. Im Zuge der Pandemie gab es viele solcher Proteste von Künstler:innen, Gastronom: innen oder aus der Tourismusbranche. Dass es auch antisolidarische Demonstrationen mit Antisemit:innen, Reichbürger:innen und Neonazis gab, sei auch als Chance zu verstehen, da sie aus dem Schutz privater digitaler Gruppen getreten sind: „Jetzt sind sie sichtbar geworden, nun kann die Gesellschaft reagieren, kann diskutieren und kann diese antidemokratischen Narrative, die damit verbunden sind, auch ächten“, erläutert Quent, Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Gefährlich werde es dann, wenn die Gesellschaft und auch die Medien nicht mehr kritisch darauf reagieren, sondern Wissenschaftsleugnung, Verschwörungserzählungen oder antisemitische Vergleiche als eine Meinung neben anderen erscheinen lassen.“

Veränderungen und verlorene Gewohneiten führten aber zum Teil auch dazu, dass sich Menschen auf der Suche nach Rationalisierung und Selbstermächtigung in Verschwörungstheorien verlieren. Daher sind Krisen „politische Gelegenheitsfenster für antidemokratische Akteure aller Art“, die schon vorher da waren, aber Ausnahmesituationen ausnutzen, um an Macht zu gewinnen. Auch hierzulande machten sich rechtspopulistische Organisationen und Parteien wie die AfD die Krise zu Eigen und mobilisierten gegen die Corona- Schutzverordnung. Der Soziologe bewertet die Entwicklung in Deutschland jedoch vorsichtig optimistisch: „Es zeigte sich, dass ein großer Teil der Gesellschaft ein gewisses Grundmaß an Resilienz gegenüber solchen rechtsextremen Krisenantworten aufgebaut hat – allerdings im Westen stärker als im Osten.“

Die Gesellschaft starkmachen

Jeder Mensch durchlebt Krisen: individuelle Schicksalsschläge oder globale Krisen wie die Corona-Pandemie. Manche wirft es aus der Bahn, andere wachsen an den Herausforderungen. Aber wie ist das bei einer ganzen Gesellschaft? Quent sieht zwei besonders bedrohliche Entwicklungen in Krisenzeiten. Eine sei am Beispiel der Regionalwahlen in Frankreich Mitte des Jahres gut zu erkennen. Der Großteil der Bevölkerung ging in Folge großer Unzufriedenheit nicht wählen. Politische Resignation wie diese sei ein „Rückzug aus Unzufriedenheit, Komplexität und Überforderung“ und eine besorgniserregende Entwicklung in Krisenzeiten. Eine weitere Bedrohung sehe er in der Entsolidarisierung der Gesellschaft, in der schwächere Gesellschaftsgruppen vergessen werden. Doch ganz so drastisch muss es nicht kommen. Krisen eröffnen auch Chancen, „weil diese gemeinsame Betroffenheit einen neuen Zusammenhalt schaffen kann“, wodurch es auch zu Solidarisierungseffekten kommen könne. Die Gesellschaft kann daraus lernen – auch für die noch weniger begrenzte und weniger fassbare Klimakrise.

Wie schafft es eine Gesellschaft, gestärkt durch Krisen zu gehen und daran nicht zu zerbrechen? Resilienz lautet die Antwort. Denn Resilienz sorgt dafür, dass auf Krisen reagiert wird und Gefahren ernstgenommen, Entscheidungen justiert sowie Veränderungen zugelassen werden. Eine zentrale Rolle spiele dabei die soziale Gleichheit. Quent erläutert: „Da, wo es weniger Armut gibt und sich Menschen weniger abgehängt fühlen, ist auch mehr Resilienz.“ Daneben nimmt auch die politische Bildung mit einem „fundierten demokratischen Orientierungs- und Wertesystem“ eine Schlüsselfunktion beim Aufbau einer krisenresilienten Gesellschaft ein. Eine politische Kultur, die Menschen in Veränderungsprozessen mitnehme und sie befähige, diese zu gestalten oder mit Transformationen zumindest auf eine aufgeklärte und zivile Art und Weise umzugehen, fördere gleichzeitig auch die Widerstandskraft einer Gesellschaft.

Die Deep Story eines Landes

Was aber bleibt von der Krise, wenn alles wieder in normalen Bahnen verläuft? Die Biografieforschung zeigt, dass Krisenerfahrungen Menschen prägen und verändern. Nicht unmittelbar im Alltag spürbar, doch in der Art, wie zukünftig mit gesellschaftlichen Umbrüchen umgegangen wird: „Für die Deep Story, die Tiefengeschichte eines Landes, macht das einen großen Unterschied.“ Das zeige zum Beispiel die Geschichte Ostdeutschlands mit der Wendezeit oder friedlichen Revolution, auf die sich immer wieder berufen werde: „Solche Formen von Tiefengeschichten sind überall präsent, in der Politik, Kultur, Wissenschaft und in der Forschung.“ Es wird die Zeit kommen, in der das öffentliche Leben ohne Abstandsregeln und Maskenpflicht wieder möglich ist. Was uns dann von den letzten Monaten bleibt, sind die Erinnerungen. Doch „in der Tiefengeschichte der Gesellschaft, vielleicht sogar in der Tiefengeschichte der Weltgesellschaft, wird die Coronakrise tiefe Spuren hinterlassen. Welche Spuren das sind, liegt in unser aller Hand. Noch ist ihre Richtung ungewiss, da die Bewältigung und Folgen so massiv unterschiedlich sind – auch zwischen dem globalen Norden und Süden.“

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