Nicht ohne uns über uns

Aus treffpunkt campus Nr. 106, 04/2022

Bildungsfachkräfte oder auch Expert:innen in eigener Sache können sich nun fünf Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen nennen. Vor drei Jahren schlugen sie mit ihrer Teilnahme am Qualifizierungsprojekt „Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt“ an der Hochschule Magdeburg-Stendal einen neuen Weg ein und schulen zukünftig zum Thema Inklusion.

Text: Carolin Maier

„Wir können zusammen wachsen, uns gegenseitig halten, unsere Zukunft jetzt liebevoll gestalten“, erklingt es aus den Lautsprechern der Aula auf dem Campus Stendal. Eine Textzeile des „Inklusionssongs für Deutschland“, der die feierliche Zeugnisvergabe zum Projekt „Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt“ (InBiST) einläutet. Ein besonderer Tag für die fünf ausgebildeten Bildungsfachkräfte, die ab sofort als Expert:innen in eigener Sache Seminare geben und Vorträge halten. Dabei klären sie zum Beispiel über die Lebens- und Arbeitssituation von Menschen mit Behinderungen, ihre spezifischen Bedarfe und die Chancen der Inklusion auf. Drei Frauen und zwei Männer mit sogenannten geistigen Behinderungen haben die vorangegangene dreijährige Qualifizierung erfolgreich abgeschlossen und können somit auf dem regulären, dem „allgemeinen Arbeitsmarkt“ Fuß fassen. Die heutige Zeugnisübergabe stellt den Startschuss in ein verändertes Leben dar. Ein Leben im Miteinander und in Unabhängigkeit.

Mehr Abwechslung und Selbstbewusstsein

Ankommen im Berufsleben und eine gerechte Bezahlung, so der Wunsch von Sven Gräbner. Der 35-Jährige zog eigens für das Projekt von Genthin nach Stendal, da er „sein Glück an der Hochschule fand“. Gräbners Traumjob, Raumausstatter, wurde ihm leider verwehrt. Danach ging er unterschiedlichen Arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfMB) nach. „Es sah immer danach aus, als ob ich wegrennen würde, dabei habe ich nur den richtigen Beruf für mich gesucht.“ Für das Motivationsschreiben zur Teilnahme am Projekt InBiST gab er sich entsprechend viel Mühe. Fünf Tage feilte er, um die richtigen Worte zu finden – was ihm offensichtlich gelang. Die Chance, durch die Qualifizierung am regulären Arbeitsmarkt teilnehmen zu können, wollte auch Fiene Herkula ergreifen: „Ich war einfach unterfordert in der Werkstatt, ich brauche Abwechslung.“ Ganz ohne Skepsis trat die 31-Jährige das Projekt allerdings nicht an: „Ich wusste von Anfang an, dass das Pendeln von Magdeburg nach Stendal sehr anstrengend für mich sein wird.“ Insgesamt zwölf Stunden zählt Herkulas Tag, Fahrtweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln inbegriffen. Dass sie diese Strecke täglich alleine zurücklegen würde, hätte sie vor drei Jahren wohl selbst nicht gedacht. „Vor dem Projekt bin ich maximal eine Viertelstunde zu Fuß gelaufen. Ich bin auf jeden Fall erfahrener und selbstständiger geworden.“ Auch die Aufregung beim Sprechen und Präsentieren ist weniger geworden, erzählt die Magdeburgerin. Diese Entwicklung beobachtet auch Sven Gräbner: „Ich bin viel offener geworden und habe mehr Selbstbewusstsein. Früher habe ich mir alles sagen lassen und tat das, was von mir verlangt wurde. Jetzt lebe ich selbstbestimmt und darüber bin ich sehr glücklich.“

Vom Umdenken und Weitermachen

Wie alles begann, daran erinnert sich Matthias Morfeld, Professor für Rehabilitation am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften und Projektleiter, noch sehr gut. Eigentlich stand er in den Startlöchern für ein Forschungssemester in Finnland. „In Finnland bin ich nie gewesen“, gibt er selbstironisch in seiner Rede zur Zeugnisübergabe kund. Dafür führte es ihn nach Kiel – dort, wo der Ursprung des Projektes, das „Mutterprojekt“, liegt. Rückblickend war es für alle Beteiligten ein enormer Lernprozess. Dr. Wiebke Bretschneider, Koordinatorin des Projektes an der Hochschule Magdeburg- Stendal, erinnert sich noch gut an die Auftaktveranstaltung 2019, für die ausschließlich Stehtische aufgebaut wurden, die aber so gar nicht den Bedürfnissen im Rollstuhl sitzender Personen entsprachen. „Es hat auch bei mir ein ganz großes Umdenken stattgefunden, inklusiver zu denken.“ Bretschneider hofft, dass auch auf politischer Ebene Inklusion als wichtiges Thema identifiziert wird, denn die Gesellschaft habe noch sehr viel Lernbedarf. Sie verweist auf die UN-Behindertenrechtskonvention für die gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft für alle Menschen. „Alle sollen mitmachen können und das wollen wir auch hier in Sachsen-Anhalt leben. Wir haben noch viel Arbeit vor uns und hoffen, dass wir da auch weitermachen dürfen.“ Weitermachen heißt in dem Fall: Die Gründung des „Kompetenzzentrums für Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt“ an der Hochschule. Für die fünf Bildungsfachkräfte hieße das: eine Festanstellung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, gerechte Bezahlung und eine selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Ziele und Träume verwirklichen

Sven Gräbner, Fiene Herkula und die drei weiteren Bildungsfachkräfte haben mit ihrer dreijährigen Vollzeit-Qualifizierung den Grundstein für ihre berufliche Zukunft gelegt. „Mein Traum ist es, die Arbeit an der Hochschule weiterzumachen und somit in viele freundliche Gesichter zu blicken. Ich möchte Menschen die Berührungsangst nehmen und aufklären“, erläutert Sven Gräbner. Mit der Zeugnisvergabe ist dieses Ziel zum Greifen nah. Es herrscht eine ausgelassene und festliche Stimmung. Die am Projekt beteiligten Personen könnten unterschiedlicher nicht sein, doch wird schnell deutlich, dass sie sich in den vergangenen drei Jahren kennen- und schätzen gelernt haben, und miteinander gewachsen sind. Wie steht es um die Nervosität der beiden? Sven Gräbner schaut auf seine Pulsuhr: „Keine Aufregung, sagt die Uhr“, und dann verschwindet er auch schon lachend an seinen Sitzplatz. Auch bei Fiene Herkula hält sich die Aufregung noch in Grenzen, die komme aber bestimmt gleich, versichert sie. Und dann ist der große Moment gekommen: Alle Teilnehmer:innen werden nach vorn gebeten und die verdienten Zeugnisse werden übergeben. Man sieht viele lachende Gesichter, Freudentränen und Erleichterung.

„Ich kann das gar nicht beschreiben“, erzählt Fiene Herkula ausgelassen. „Ich habe immer versucht, mir diesen Moment vorzustellen, aber jetzt, wo er da ist, herrscht emotionales Chaos.“ Für die Magdeburgerin steht fest: Sie möchte, sobald der Arbeitsvertrag unterschrieben ist, ihre erste eigene Wohnung in Stendal beziehen. Auch Sven Gräbner ist die Freude anzusehen: „Ich war schon immer ehrgeizig, Neues zu lernen. Als ich an der Hochschule angenommen wurde, war ich so glücklich. Ich möchte kein Zurück mehr, ich möchte nur noch vorwärts. Und anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern.“

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