Ein Studium zwischen Hörsälen und Demos in Westberlin

Raimund Geene (vierter v. l.) im Jahr 1992 auf einer Demonstration in Rostock-Lichtenhagen. Foto: privat

Aus treffpunkt campus Nr. 84, 03/2015

Kreuzberger Kneipen und politische Diskussionsrunden passen ja bekanntlich zusammen wie Kaffee und Milch. Raimund Geene erzählt in der Reihe „Lehrende und ihre Studienanfänge“ von seinem Politik-Studium in Berlin. Heute ist er selbst Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal und lehrt am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften in Stendal zum Thema Kindliche Entwicklung und Gesundheit.

Text: Aufgeschrieben von Britta Häfemeier

Als ich in den Achtzigerjahren zum Studium an die Freie Universität nach Berlin (oder wie man in studentischen Kreisen damals sagte: Westberlin) kam, war ich in Gesellschaft von Tausenden anderen Erstimmatrikulierten der Babyboom-Jahrgänge. Schon aus der Schule und Jugend kannte ich es, dass immer alles überlaufen war. Aber die Organisation des Politik-Studiums am Otto-Suhr-Institut, unserem „OSI“, war doch noch mal etwas verschärft: Sitzplätze gab es zumindest zu Semesterbeginn gar keine, kleine Seminare hatten nur 50 bis 60 Teilnehmer – große mehrere hundert. Wenn man früh genug dran war, konnte man zumindest vorne auf dem Fußboden hocken, ansonsten gab es nur Stehplätze im Gang. Dort konnte man aber zumindest in Ruhe rauchen, während im Seminarraum die Raucherdiskussionen immer wieder neu aufflammten. Meist einigte man sich auf die Formel: „Nicht mehr als drei Zigaretten auf einmal.“ Doch bald glühte wieder eine vierte und die Diskussion begann von vorne.

Weil wir überzeugt waren, nur für das Arbeitsamt zu studieren, nahmen wir das Studium nicht allzu ernst und Anwesenheitspflichten gab es ohnehin nicht. Uns wurde gesagt, wir müssten uns das Studium selbst erschließen, vor allem erschlossen wir aber die „Kreuzberger-Welt“. Durch die vom AStA (Allgemeiner Studierendenausschuss) organisierten „Aktiv-Wohnungssuchenden-Treffs“ wurden studentische Gruppen gebildet und innerhalb weniger Monate insgesamt 160 große Altbauhäuser in Berlin besetzt. Zeitweise wohnten bis zu 10.000 junge Menschen, überwiegend Studierende, dort als Hausbesetzer. Der Forschungsschwerpunkt wurde somit in das politisch gewordene Private verlegt, gerne auch nächtlich in erregten Kneipendiskussionen. Tagsüber war die Besetzerbewegung mit wöchentlichen Plena, Besetzerräten und Demos gegen AKWs und Abschiebung von Flüchtlingen beschäftigt. Nach der polizeilichen Räumung unseres Hauses wurde ich im Studentenparlament schon als Zweitsemester-Studie zum AStA-Vorsitzenden gewählt. Geräumten Besetzern wurde freies Campieren auf dem Hochschulgelände und in Seminargebäuden angeboten – bei der Überfüllung der Hörsäle kam es auf ein paar Schlafsäcke auch nicht mehr an.

Wie ich mich dann zwischen Kaffeepflücken in Nicaragua, internationalen Freundschaftszügen nach Moskau und Taxifahren in „Westberlin“ durch mein Grundstudium mogelte, weiß ich heute nicht mehr so genau. Ein Großteil meiner Kommilitonen hatten aber längst schon aufgegeben. Erst im Hauptstudium und besonders durch die Diplom-Arbeit, für die sechs Monate als Bearbeitungszeit angesetzt waren, lernte ich wissenschaftliches Arbeiten. Das machte mir dann auch so viel Spaß, dass ich mit der Promotion gleich fortfuhr. Für meine spätere berufliche Arbeit als Geschäftsführer von Gesundheit Berlin und auch meine heutige Tätigkeit als Hochschullehrer waren aber vor allem Projektarbeiten und Diskussionen in der „Kreuzberger Szene“ sehr lehrreich.

Mehr Erinnerungen an die Studienzeit in „Lehrende und ihre Studienanfänge“

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