Bildungslandschaften: Eine große Portion Gemeinschaft

Seit dem Wintersemester 2018/19 kochen Studierende der Kindheitswissenschaften mit Kindern und Jugendlichen aus dem Stendaler Stadtteil Stadtsee. Lorenna Pereira und Samira Feizi (v.l.) haben Freude beim gemeinsamen Kochen.

Erzählt von Diana Doerks
Fotos: Matthias Piekacz

Stendal Stadtsee kurz vor 16 Uhr. „Hier bist du richtig“, begrüßt mich meine Kollegin Miriam Pieschke mit einem großen Kochtopf in der Hand und einem Lächeln im Gesicht. Ich öffne ihr die Glastür zur Kunstplatte, einem unscheinbaren Gebäude wenige Meter hinter dem Altmarkforum. Die Studierenden Wiebke, Jan und Lorenna begrüßen uns freundlich und gut gelaunt. Es ist ein heißer Sommertag Ende August. Am letzten Termin der Aktion „Jugend kocht“ im Sommersemester stehen Eierkuchen auf dem Speiseplan. Der Einkauf der Zutaten bildet den Auftakt des Kochnachmittages; Jan findet einige Kinder, die ihn dabei begleiten möchten.

Ein Stück Partizipation

Auf dem Weg zur kleinen Küche indes bleiben Miriams Augen an einem Miniaturbild des Stadtteils Stadtsee hängen. „Ursprünglich wurde der Stadtteil für das Bau- und Montagepersonal und das spätere Betriebspersonal des dritten und größten geplanten Kernkraftwerks der Deutschen Demokratischen Republik in den 1970er Jahren gebaut“, weiß sie zu berichten. „Durch die Wende 1989/90 ist der Bau des Kernkraftwerks Stendal aber nie vollendet worden und die Arbeitskräfte wurden nicht mehr benötigt. Aus dem Stadtteil, in welches alle ziehen wollten, war innerhalb kürzester Zeit ein prekarisierter Sozialraum geworden.“ In regelmäßigen Haustürgesprächen erfährt Miriam mehr über die Wünsche und Interessen der hier lebenden Menschen, die sie zu mehr Partizipation ermutigen möchte.

Während unseres Gesprächs füllt sich der große Raum neben der Küche weiterhin mit Kindern, vornehmlich Mädchen, eines wird von seinem Bruder begleitet. Alle von ihnen haben ihre Heimat verlassen; sind aus Afghanistan und dem Iran nach Deutschland gekommen. Sie sind zwischen 8 und 15 Jahren alt und sprechen deutsch, die meisten sind vor der Schule nach Deutschland migriert. Ihre Eltern, so Miriam, sprechen hingegen fast nur Arabisch, die Kommunikation mit ihnen wird durch Studierende mit arabischen Sprachkenntnissen ermöglicht.

Samira Feizi ist eine von den Teilnehmenden. Die 10-Jährige gebürtige Afghanin mit schwarzen langen Haaren hat wie die anderen Kinder keine Berührungsängste. Die Zeit während der Zubereitung nutzt sie um mit uns und den Kindern zu spielen. Katze und Maus steht hoch im Kurs. Aber eigentlich gefällt ihr das Essen am besten.

Eine Menge Respekt

 „Eine Herausforderung in ländlichen Bildungslandschaften ist neben dem fehlenden Austausch und wenig gemeinsamen Angeboten das Thema Diskriminierung; ihr begegnet das Projekt mit dem Netzwerk RESPEKT. Für Teilhabe und gegen Diskriminierung im Landkreis Stendal, welches von meiner Kollegin Maike Simla koordiniert wird“, fährt Miriam fort. Seit Beginn des Jahres können Diskriminierungsfälle auf der Website www.respekt-mitteilen.de gemeldet werden. Die Fälle werden wissenschaftlich dokumentiert und daraus Maßnahmen gegen Diskriminierung und für mehr Teilhabe abgeleitet.

Wer das persönliche Gespräch sucht, findet in speziell geschulten Anlaufstellen Gehör. „Es gibt nur wenige Beratungsstellen, die auf Diskriminierung spezialisiert sind und zum allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) beraten, ein Anlaufpunkt ist die Gleichstellungs- und Behindertenbeauftragte des Landkreises Stendal Birgit Hartmann, in Magdeburg berät der ENTKNOTEN Betroffene. „In einem ersten Schritt wollen wir für Diskriminierung sensibilisieren, sie sichtbar machen und schließlich Maßnahmen für mehr Teilhabe entwickeln und umsetzen“, beschreibt mir Maike Simla ihre Arbeit im Projekt.

Vielfältige Perspektiven

Sie sitzt gemeinsam mit Miriam Pieschke und Anja Funke auf dem Stendaler Campus, wo ich sie besuche. Auf dem Schreibtisch liegen neben einem Leitfaden für Anlaufstellen, den sie erarbeitet hat, das vorläufige Programm zweier beruflicher Wegweiser, die einmal im Jahr an der Hochschule durchgeführt werden. „Die ,Connect You‘ und ,Altmärkische Netzwerkkonferenz‘ möchten der Bildungs- und Erwerbswanderung entgegenwirken und gut ausgebildete Studierende in der Region halten. Um dies zu realisieren, wurden die Veranstaltungen im Vorfeld mittels Befragungen und direktem Feedback auf Optimierungspotenzial untersucht, welches nun in die Veranstaltungskonzeption einfließt“, erfahre ich von Anja Funke.

Auch eine Neuerung ist in diesem Jahr geplant. Beide Veranstaltungen sollen um eine weitere Komponente ergänzt werden. „Die gemeinsame Bildungskonferenz am 6. November 2019 ist eine Möglichkeit, die sehr unterschiedlichen Bildungsakteurinnen und –akteure unter dem gemeinsamen Thema Bildungsungerechtigkeit zusammenzubringen“, so die Projektleiterin Prof. Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya, Hochschullehrerin für Kindliche Entwicklung, Bildung und Sozialisation am Standort Stendal.

Gemeinschaftliches Miteinander

Zurück in der Kunstplatte wurden zwischenzeitlich die quadratischen Tische zu einer langen Tafel verbunden, an dem alle zum Essen Platz finden. Kurze Zeit herrscht eine ungewohnte Ruhe im sonst lebhaften Gebäude. Auch im nächsten Semester möchte Miriam gern die Aktion „Jugend kocht“ mit Studierenden fortsetzen. Da sich auch viele Erwachsene ein nachbarschaftliches Miteinander wünschen, findet seit Kurzem jeden letzten Samstag im Monat ein offenes Treffen statt, verrät sie mir zum Abschied. Vorallem der Austausch untereinander stünde hierbei im Vordergrund.

„Bildungslandschaften in ländlichen Räumen“ ist eines von 14 Teilprojekten im Rahmen des Vorhabens „TransInno_LSA“, kurz für „Transfer- und Innovationsservice im Bundesland Sachsen-Anhalt“ und wird für fünf Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz gefördert.

Mehr unter www.transinno-lsa.de

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Veröffentlicht im Oktober 2019

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