David Schmitz-Hübsch

Glasfassade

Beim Blick in den Spiegel erschrecke ich. Was mich dort anschaut, ist nichts weiter als eine wachsartig glänzende Maske. In jedem Moment rechne ich damit, dass die Fäden, die die Maske und mein Gesicht durch den Spiegel hindurch verbinden, sich lösen. Lachend, ob der fragwürdigen Gestalt auf der anderen Seite, würde die Maske davongehen und mich mit dem leeren Spiegel zurücklassen. Ich wende mich ab, stelle mich schnell unter die Dusche. Das Wasser ist absichtlich heißer als sonst, damit ich mich spüre. Das Glas der Duschwand beschlägt und ich fange an, willkürlich Löcher auf das beschlagene Glas zu malen, blicke hindurch auf den Spiegel. Als der kondensierende Wasserdampf an der Glaswand zu schwer wird, rinnen kleine Tropfen nach unten und vermischen sich Richtung Abfluss zu einem großen Ganzen. Ich steige aus der Dusche aus und wische mit meiner flachen Hand über den beschlagenen Spiegel. Mein Kopf und mein Körper fangen an zu schmerzen. Die Hand auf dem Spiegel spürt plötzlich eine weiche, gallertartige Masse, wo gerade noch der Spiegel war. Eine innere Macht zieht meine Hand in den Spiegel.

Es riecht nach Kaffee und verbranntem Toast. Die Küche, in der ich stehe, fühlt sich fremd an. Neben der Tür in der Küche hängt ein kleiner Schminkspiegel. Während mein Blick den Spiegel streift, bilde ich mir ein, für einen winzigen Moment die Maske zu sehen, die mich aus dem Bad heraus anstarrt. Die Sonne wärmt mir den Nacken, während ich erfolglos im Kühlschrank nach Marmelade und Butter suche. Über dem alten Küchenbuffet meiner Oma tickt die Wanduhr unaufhörlich und im immer gleichen Takt hinter ihrem dicken, gewölbten Glas. Abgeschirmt von der realen Welt erledigt sie ihre Bestimmung mit stoischer Geduld. Ich will mich von dem Geräusch nicht einlullen lassen und nehme hastig zwei, drei Schluck Kaffee, wobei ich mir die Zunge verbrenne. Den Toast esse ich, während ich hektisch meine Sachen zusammensuche. Krümel verteilen sich fein durch meine Wohnung. Zumindest sollte ich mich hier nicht mehr verirren, denke ich amüsiert. Das Kindergeschrei aus dem Zimmer neben der Haustür ignorierend, verlasse ich die Wohnung und nehme den gläsernen Fahrstuhl, um vom 17. Stock nach unten zu fahren. Dicker, undurchdringlicher Nebel liegt über der Stadt und die Wolkenkratzer ragen wie dicke Nadeln aus einem Wattebausch heraus. Keiner ist wie der andere und doch sehen sie alle gleich aus. Nuancen unterscheiden die Farben der Fenster und bilden eine schillernde Palette von unterschiedlichsten Blau- und Grüntönen. Die Sonne strahlt bereits mit voller Kraft erbarmungslos auf die Glasscheiben, die nicht gebrauchte Teile der Strahlen genauso erbarmungslos zurückwerfen. Es entstehen Lichtkegel, an anderen Stellen Schatten. Sorgsam aufgeteilt, damit auch keine Fläche zu kurz kommt. Ab dem 10. Stock beginnen sich die Konturen des Fahrstuhls aufzulösen und verschmelzen mit mir und der gläsernen Fassade des Gebäudes. Der Fahrstuhl gleitet nun nicht mehr senkrecht Richtung Erde, sondern bewegt sich ohne jede Dimension durch Raum und Zeit. Die Geschwindigkeit nimmt immer weiter zu. Mein Ohr nimmt ein Pfeifen wahr, immer lauter werdend, aus einer Richtung, die ich nicht näher bestimmen kann. Als das Pfeifen eine unerträgliche Höhe und Lautstärke erreicht hat, ist es plötzlich still.

An jeder Seite des höchstens zweieinhalb Meter breiten Bürgersteigs ragen die Wolkenkratzer in die Höhe. Schwindel überkommt mich, wenn ich versuche, an ihrer Fassade entlang bis nach oben zu sehen. Eine glatte Glasfläche, ohne Halt und Profil, kalt und doch warm. Um meine Straßenbahn zu bekommen, muss ich meinen Schritt beschleunigen. Immer wieder blicke ich in die Fenster der an mir vorbeiziehenden Gebäude und beobachte die Figur, die mit mir zusammen eilig den Weg zurücklegt. Sehe ihre Bewegungen und ihr Aussehen und bewerte und beurteile das Äußere, ohne zu wissen, was hinter ihrer Fassade ist. In ihrem Gesicht erkenne ich die Maske – es lässt mich erschaudern. Unfähig wahrzunehmen, ob und wie viele Menschen hinter der Fassade auf mich zurückstarren, parallel zu mir ein Stück des Weges mit mir laufen, fleißig bereits in ihre Bildschirme starren und in die Tasten hauen. Ich bemerke einen kleinen Jungen, der eine Scheibe mit einem Schlüssel zerkratzt und anschließend seinen Kaugummi auf die Scheibe klebt. Der Schlüssel hinterlässt eine deutliche Spur auf der Glasfassade des Gebäudes. Ab jetzt ist es auf Lebenszeit gezeichnet mit einer tiefen Rille. Es kümmert den Jungen nicht, ob sich hinter der Scheibe ein anderer ekelt oder ärgert. Ignoriert das Leben und die Meinung auf der anderen Seite. Wie ich den Jungen so beobachte, bemerke ich gar nicht, wie ich durch eine plötzlich vor mir auftauchende Fensterscheibe laufe. Ich spüre keinen Schmerz, es gibt keine Scherben. Die zähflüssige Scheibe bremst meine Geschwindigkeit so ab, dass ich in Zeitlupe auf den Bürgersteig falle. Die Zeit steht still, nur für einen Moment.

Während die Straßenbahn, in der ich erschöpft und gedankenverloren sitze, über die Gleise rattert, starre ich auf die Glasfassade der Hochhäuser, an denen ich vor einer Minute noch entlanggegangen bin. Ganz unbemerkt wird die Straßenbahn immer schneller und die Gebäude beginnen, an mir vorbeizurasen. Aus einzelnen Fenstern werden flackernde Mosaiksteinchen. Irgendwann verschwimmt alles zu einer glatten, flirrenden Oberfläche. Ich werde in meinen Sitz gedrückt und spüre, wie die Straßenbahn sich langsam von ihren Schienen löst. Es geht nun an den Gebäuden entlang und durch sie hindurch. Hoch, runter, links, rechts. Die Gebäude fangen an auszuweichen, organisieren sich und kreisen die Straßenbahn langsam ein. Erbarmungslos ziehen sie den Kreis immer enger und schlussendlich beginnen sie, Wagen für Wagen zu zerdrücken. Helle und warme Lichtblitze und Metallsplitter füllen die Luft. In dem Metallstreben vor meinem Gesicht erkenne ich die Maske, die sich weinend abwendet. Auf meiner Brust lastet eine unerträgliche Leere, Enge und Schwere. Ich kann nicht mehr anders und höre auf zu atmen.

Das Fenster meines Büros steht offen. In der Luft liegt ein leichter Zitrusduft. Ich nehme einen tiefen Schluck Bourbon und beobachte die schwingenden Drahtseile vor dem Fenster. Der Fensterputzer befindet sich eine Etage über mir in seinem metallenen Käfig. Schaum- und Kaugummipartikel fallen von oben herab wie Schnee in die Tiefe. Gewissenhaft putzt er Fensterscheibe für Fensterscheibe, um sie von den Spuren der Zivilisation zu befreien oder diese wenigstens zu verwischen. Wie Beppo der Straßenkehrer scheint er dabei keine Eile zu haben, wohl wissend, dass die immer wiederkehrende Routine nicht verschwindet. Er kein Ende finden wird, an dem es am nächsten Tag keine von der Zeit gezeichneten Fensterscheiben mehr gibt. Ich wende mich meinem Bildschirm zu, keine Ahnung von der Technik hinter dem Glas. Hauptsache, das Ding funktioniert. Auf einer Internetseite werde ich nach meinen persönlichen Daten gefragt. Ich gebe sie preis, ohne darüber nachzudenken. Warum heißt es eigentlich gläserner Mensch, schießt es mir durch den Kopf. Wüsste ich alles über jemanden, müsste der gläserne Körper nicht vollgestopft sein mit Informationen? Vielleicht in Schnipseln, beschrifteten Kategoriekarten oder Ketten bestehend aus Nullen und Einsen? Lesbar für jeden, der an uns gläsernen Menschen vorbei geht. Wäre der Glaskörper warm? Während ich in Gedanken auf den gläsernen Körper zugehe, bemerke ich, dass er eine Maske in der Hand hält. Ich blicke hoch und der Glaskörper ist verschwunden.

Ich stehe an einem Fluss und es wird dunkel. Nach und nach gehen in den Büros und Wohnungen die Lichter an. Zuvor undurchsichtiges Glas und dunkle Räume dahinter werden plötzlich durchsichtig und einsehbar. Wie in gestapelten Boxen lassen sich Einrichtungen und Menschen beobachten und begutachten. Die undurchdringliche Fassade gibt für einen Moment alles Verborgene ungewollt frei. Innen und außen verschwimmen. Hinter den Glasfassaden ein großes Sammelsurium, wie in einem Ameisenhaufen. Einige Fenster werden hektisch mit Gardinen oder Jalousien verbarrikadiert, um Privatsphäre zu wahren, unsichtbar zu bleiben. Mein Atem ist sichtbar und ich blase ihn in den Nachthimmel, bilde mir ein, damit für den aufsteigenden Nebel zu sorgen. Die Lichter in den Fenstern gehen an und aus, mal langsam, mal schnell, und zeichnen Muster in die Nacht. Die Muster werden zu Wörtern, die ich aber nicht schnell genug erfassen kann. Mein Kopf fängt an zu schmerzen während meine Augen versuchen, den Inhalt auf der Fassade zu erkennen. Die Wörter werden immer heller und die Umgebung dahinter fängt an zu verschwinden. Die Schmerzen in meinem Kopf werden unerträglich, in meinem ganzen Körper fühle ich einen brennenden Druck. Meine Haut knackt leise und bekommt kleine, feine Risse. Immer schneller wandern die Risse Richtung Körpermitte. Im nächsten Moment zerspringe ich in tausend kleine Scherben. Wie Glühwürmchen schwirren die Scherben in den unterschiedlichsten Farben schimmernd davon. Zeit und Raum verlieren sich. Davor, dahinter und danach existiert nichts mehr.

Ich stehe in meinem Bad. Beim Blick in den Spiegel erschrecke ich.

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