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Anthony Morgan
Prokrastination
Liebe Claire,
Ich hatte versprochen dir nach zwei Wochen wieder zu schreiben. Tja, war wohl nix! Hier ein kurzer Einblick in meinen Alltag: Ich laufe am Bad vorbei und denke mir, dass ich noch ein Verlängerungskabel kaufen sollte. Ach ja, und den Spiegel putzen, aber dafür bräuchte man ein Mittel und jenes müsste ich bekanntlich erst kaufen. „Müsste, könnte, sollte.“ „Eigentlich, schon lange, mal wieder.“ Eine wahre Plage. Ich habe gestern laut auf Kopfhörern Musik gehört. Geile Band! (der Link kommt per WhatsApp) Was der Text war, kann ich dir nicht mehr sagen. Dieser schwirrte mir, wie du dir schon denken kannst, nicht im Kopf herum. Stattdessen: „Müsste noch das Entgelt überweisen, könnte Hemden bügeln, sollte staubsaugen und lieber die Lektüre lesen, bevor sie abgefragt wird. Mache ich morgen.“ Sir Peter Ustinov hat mal gesagt, dass die Menschen, die etwas von heute auf morgen verschöben, dieselben seien, die es bereits von gestern auf heute verschoben hätten. Yep, da können der Papiermülleimer und ich zustimmen. Sag mal, du hast doch schon deinen Bachelor, Master und bald den Doktor. Wie hast du das mit dem Zeitmanagement gepackt? Bestimmt um 23:59:59 Uhr eingereicht und bestanden, oder? Ich sehe es kommen. Kaffeetassen stapeln sich auf der Tischkante und lachen mich aus, weil ich auf der Economist, auf welcher ich Trump mit Fu Manchu ausgestattet habe, drei Stichpunkte von vieren der Titelseiten-to-do-Liste noch nicht abgehakt habe. Ich bin noch in einer Stadt gemeldet, in welcher ich nun schon seit Jahren nicht mehr wohne. Die GEZ geht auch noch jedes Quartal dorthin, und das nur, weil es immer etwas Interessanteres, etwas Wichtigeres zu erledigen gibt. Ein etwas älteres Ich freut sich. Er hat das Lied am Klavier noch nicht verlernt. Morgen übe er wieder … jaja. Kennt man. Ich sollte ein Buch – ne zu lang – einen Artikel darüber schreiben. Ob der dann jemals fertig werden würde? „TU ES EINFACH!“, lustiger Ansatz, auf den ich ohne dich nie gekommen wäre. Danke, Mama. Wenigstens scheine ich nicht alleine zu sein: Eine Generation der Aufschieber:innen und stolz darauf. Nach längerer Überlegung vielleicht doch kein neues Phänomen. Es scheint mir ein evolutionärer Vorteil zu sein aufzuschieben, denn sonst wären wir vermutlich als Spezies mit jedem Jahrhundert produktiver und effektiver geworden. Ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber ich komme mir nicht gerade wie ein Paradebeispiel der menschlichen Produktivität vor.
Deine Bezugsperson im Fachbereich des Prokrastinierens,
Thomas