Luca Teßmer

verrückt

Ich betrete einen großen, düsteren Raum und setze mich auf den schäbigen Klappstuhl aus Plastik gegenüber der Tür.

Es war einmal, dass wir Märchen spielten und neun Geißlein waren. Zu einer anderen Zeit lebten wir als bunte Kobolde, die nach dem Schatz suchten. Wir retteten Bücher und sagten das Alphabet rückwärts auf, während die Welt brannte. und trafen zuvor den König Salomo. Wir lebten und liebten das verrückte Sein im Theaterspiel.

Während ich wieder aufstehe, schwinden die Bilder. Ich positioniere den hölzernen, bordeauxrot gepolsterten Stuhl neu, setze mich und stütze meinen Ellbogen auf der Armlehne ab.

Du bist verrückt. Du. Bist. Verrückt.
Verrückte Welt, denn das ist ein Satz, den du dir oft anhören musst. Wir gingen spazieren und du meintest, während wir den Fluss entlang gingen, dass du es nicht verstehest.
Du verstehst die Menschen nicht, denn sie reden über dich, stellen sich über dich und nutzen dich aus, sobald sie merken, dass du anders bist.
„Hast du schon mal genauer über das Wort ‚verrückt‘ nachgedacht?“, fragtest du mich und beantwortetest die Frage selbst: „Ver – rückt. Theoretisch bedeutet das lediglich, dass etwas  ver-rückt ist und von der Norm abweicht. Doch welche Normen haben wir in unserer Gesellschaft? Wollen wir nicht lieber ver-rückt sein und uns ihnen widersetzen? Oder sollte besser so vieles andere als wahnsinnig und verrückt betitelt werden, was eben geschieht auf dieser Welt?“
„Das ist ja ungefähr so wie mit dem Huhn und dem Ei!“, dachte ich und stellte mir augenblicklich ein knallpinkes Huhn mit einem schwarzweiß karierten Ei vor.
Du riefst deine Hündin wieder zu dir, die nach eurer abgeschlossenen Ausbildung deine Assistenzhündin sein wird, und führtest deine Gedanken weiter aus, empörtest dich, dass es auf dieser Welt etliche Dinge gebe, die anders sein sollten, weil so vieles zerstört werde. Zu vieles. Menschenseelen, Kinderseelen, Ökosysteme. Wo solle man da anfangen oder aufhören?
Deine Seele wurde auch zerstört. Du bist viele. Also, ihr seid viele. Du hast viele Persönlichkeitsanteile, und das ist deine Überlebensstrategie und es ist smart, es ist unglaublich komplex und facettenreich, wozu die menschliche Psyche in der Lage ist. Dieser Schutzmechanismus rettet Leben.
Du sprichst Deutsch. Du sprichst Englisch. Du sprichst Sprachen, welche du nicht verstehst, Sprachen, die Anteile von dir nicht verstehen. Manchmal weißt du nicht, wann du wo warst oder wie du an den Ort gekommen bist, an dem du dich nun wiederfindest. Doch all das ist kein Grund, dass sich Leute das Recht herausnehmen dürfen, dich an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Dich zu verrücken, ohne nach deiner Erlaubnis zu fragen.

Ich stehe auf, schüttle nachdenklich den Kopf, kratze mich an meinem linken Ohr und verrücke den Sessel erneut um ein Stück. Daraufhin setze ich mich wieder.

Wir waren wieder im Theater. Dieses Mal trafen wir uns nicht auf der Bühne, sondern vor der Bühne wieder. Du warst älter geworden. In diesem Moment dachte ich nicht daran, dass du alt sein könntest. Ich traute mich nicht, auf dich zuzugehen, da dich viele wichtige Menschen umgaben. Es war das letzte Mal, dass ich dir begegnet bin, doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Ich bin verwirrt, als ich mich erneut erhebe, und kann das Sofa nur schwerfällig bewegen. Bin ich verrückt geworden? Was passiert hier? Dieses Mal drehe ich es in die andere Richtung, bevor ich mich erneut setze.

Du verrücktest deinen Turm um fünf Felder nach rechts und bist wie nahezu immer nur in der Lage in Zitaten zu kommunizieren: „Ich bin nicht verrückt geworden. Ich habe mich selbst verrückt“, kommentiertest du, wie du es eh und je getan hast und grinstest mich dabei schief an.

Nun sehe ich Dich und Dich und Du bist ebenfalls in einer Ecke des Raumes.
„Verrückt.“, denke ich und überlege, wo ich den Thron nun platzieren möchte.

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