Maren Oberhettinger

versuchen

Versuchen. Ich habe es satt ständig neu zu versuchen. Bisher ist so viel schiefgelaufen. Die Theorie vom Führerschein musste ich dreimal wiederholen und auch der Praxisteil hat erst beim zweiten Mal geklappt. Ich habe das Abitur versucht, aber nicht meistern können und nun stehe ich hier wie ein Versager und frage mich, ob es sich lohnt den Weg zu versuchen, den gefühlt alle gehen.
Ich muss mich neu suchen, schauen, was ich kann und was meine Stärken sind. Jedoch bin ich es langsam leid mich zu ver-suchen.

Eine Freundin munterte mich einmal auf, indem sie mir den Sinn dieses Wortes nahegebracht hat: versuchen heißt zu suchen. Suchen nach dem richtigen Weg oder der Lösung. Zu suchen, aber sich währenddessen auch mal zu ver-suchen, Umwege zu gehen. Bin ich denn nicht schon genug Umwege gegangen? Zu oft vom „normalen” Weg abgekommen? Die meisten meiner Mitmenschen haben sich schon gefunden. Ich aber überlege schon seit Jahren, wer und was ich bin.
Meine Familie hat mich religiös erzogen, aber mittlerweile weiß ich nicht mehr, ob ich überhaupt noch glaube.

Die Gesellschaft geht ohne mich zu kennen davon aus, dass ich hetero bin, aber bin ich das wirklich? Wenn nicht, wie werde ich dann angesehen? Lohnt es sich versuchen herauszufinden, wer ich bin? Wie werden meine Mitmenschen darauf reagieren?
Wenn ich auch hiermit scheitere und mich noch einmal ver-suche, bin ich am Ende.
Ich hole tief Luft. Noch gebe ich nicht auf. Wie sagt man so schön? Am Ende wird alles gut, und ist es noch nicht gut, dann ist es auch nicht das Ende.
Ich werde also weiterhin mein Glück versuchen.

Erstmal jedoch suche ich nach Essen. Da kann ich sicher sein, etwas zu finden.
Ich gehe hinunter in den Keller, wo sich die Speisekammer befindet. Irgendwie habe ich schon den ganzen Tag Appetit auf einen Kartoffel-Gemüse-Auflauf.
Nachdem ich die Kartoffeln geholt, geschält und gewaschen habe, fange ich an sie zu schneiden und versinke mit den rhythmischen, monotonen Schnitten wieder in Gedanken.

Ich versuche an andere, schönere Dinge zu denken, doch leider fällt mir nichts ein. Ich habe die letzten Jahre so oft versucht glücklich mit mir zu sein, doch jetzt bemerke ich erst, wie falsch das war. Es ist dringend an der Zeit, mich zu finden und zu verändern, sodass ich wirklich rundum glücklich sein kann. Meine Familie und Freunde sagen, sie kennen mich und ich versuche es mir selber auch einzureden, aber ich weiß, dass es nicht stimmt. Wenn ich mich nicht wohlfühle und lieber anders sein will, haben auch die anderen keine Chance mich zu kennen, egal, wie sehr sie es versuchen.

Ich denke noch eine Weile daran, wie meine Mitmenschen mich beschreiben, als mich plötzlich der Schmerz durchfährt. Erschrocken blicke ich auf meine Hand und sehe einen tiefen Schnitt in meinem linken Zeigefinger. Fluchend lasse ich das Messer fallen und halte schnell meinen Finger unter kaltes Wasser. Plötzlich klingelt mein Handy. Ich versuche mich an Multitasking, indem ich mir ein Pflaster aus dem Küchenschrank hole, den Anruf annehme, so lange wie möglich unter dem kalten Wasser bleibe oder nicht so viele Blutstropfen verliere. Wie immer scheitere ich bei diesem Versuch. Vergeblich versuche ich mit nassen Händen auf meinem Handy nach rechts zu wischen. Erst als es mir gelingt das Pflaster auf meinen Finger zu kleben schaffe ich es.
Ich erkenne die Stimme meines Bruders. Schon durch mein gestresstes „Hallo?“ weiß er, wie es mir geht. „Na, Schwesterchen, welche Laus ist dir nun schon wieder über die Leber gelaufen?“
„Hast du nicht Besseres zu tun, als ständig auf mir herumzuhacken?!“ Krampfhaft versuche ich die mittlerweile getrockneten Blutspuren zu beseitigen.
„Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du heute Abend schon etwas vorhast oder ob wir uns mal einen schönen Abend machen wollen, ganz wie früher!“
„Ich bin gerade nicht in guter Laune.“
„Das merke ich. Ich komme einfach trotzdem vorbei und dann versuchen wir dich gemeinsam aufzumuntern!“ Ich bin versucht ihm zu widersprechen, doch da hat er bereits aufgelegt.  
Nachdem ich wieder in der Küche stehe und den Auflauf fertig zubereite, versuche ich mein kleines Lächeln zu verstecken. Mein Bruder weiß, wie er mich aufmuntern kann. Er wird keine Ruhe geben, bis ich ihm alles erzählt habe.
Deshalb werde ich versuchen mit ihm über alle Themen zu reden, über die ich mir gerade Gedanken mache. Auch wenn die Versuchung groß ist, erst einmal alleine damit klarzukommen, bis ich weiß, wie ich dazu stehe und was mir wichtig ist. Aber vielleicht ist es gut, sich anzuvertrauen. Er ist dafür genau der richtige. Er versucht nicht nur mich glücklich zu machen, sondern er schafft es auch. Ich weiß, dass er immer für mich da ist und dafür bin ich sehr dankbar.

Vielleicht kommt es nicht darauf an den Weg zu gehen, den alle gehen, der „normal” ist, sondern seinen Weg zu finden, mit Hilfe von denen, die einem nahe stehen.
Mir wird nun klar, dass ich einen Teil meines Glücks nicht mehr zu finden versuchen muss. Ich habe ihn in meiner Familie schon gefunden.

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